Eines Tages begegnete ich Elisabeth. Stellen Sie sich eine kleine, attraktive Frau vor, mit modischer Frisur, lässiger Kleidung und einem Piercing.
Elisabeths Vorgeschichte
Elisabeth wurde 1969 nach siebenmonatiger Schwangerschaft geboren. Die Geburt war schwierig. Elisabeth blieb im Geburtskanal stecken und erlitt vermutlich einen Sauerstoffmangel. Jahre später wurde bei ihr eine sogenannte kindliche Zerebralparese diagnostiziert. Sie galt als verzögert in ihrer Entwicklung, doch da sie ziemlich früh aufstehen konnte, schien niemand besorgt. Im Alter von etwa zwei Jahren wurde sie zu einem Arzt gebracht, der damals den besten Ruf hatte, wenn es um behinderte Kinder und solche mit Entwicklungsverzögerungen ging. Er hielt Elisabeth bloß für verwöhnt.
Diagnosen und Therapie
Ein halbes Jahr später kam sie in einen Sonderkindergarten und zu jenem Zeitpunkt begann ihr „Therapieweg“ (so Elisabeth). Als Kind wurde sie hauptsächlich mit Bobath-Therapie behandelt. Von Anfang an hatte sie Schwierigkeiten mit jeglicher Art von Therapie, da sie Berührung verabscheute. Auch sah sie keinen Grund für eine Veränderung, konnte sie doch rollen, krabbeln und sich auf allen Vieren schnell fortbewegen.
Elisabeth musste in den ersten zehn Lebensjahren mindestens sechs Operationen über sich ergehen lassen, viele weitere folgten. Heute meint sie, es seien so viele gewesen, dass sie sich nicht mehr an jede einzelne erinnern könne. Woran sie sich noch erinnern kann, ist, dass die Achillessehnen und Kniebeugesehnen verlängert wurden und dass die Adduktorensehnen (an den Innenseiten der Oberschenkeln) abgelöst und an andere Knochenansätze verlagert wurden. Manche dieser Operationen mussten wiederholt werden bzw. führten sie zu weiteren Operationen. Die Gründe dafür waren postoperative Komplikationen, oder die Ärzte meinten, dass der erste Eingriff eben nicht zum gewünschten Erfolg geführt habe und man deshalb noch einmal operieren müsse.
Was zwischen ihrem sechsten und zwölften Lebensjahr geschehen ist, ist für Elisabeth nicht mehr in eine genaue zeitliche Abfolge zu bringen. Als Kind konnte sie mit Hilfe eines so genannten reziproken Gehgestells gehen, wenn auch langsam und mit großer Anstrengung. Nach einer Operation im Alter von sieben Jahren konnte sie ihre Knie nicht mehr strecken und danach überhaupt nicht mehr gehen. Eine weitere Operation sollte hier wieder Abhilfe schaffen, mit der Folge, dass sie sieben Wochen in einem Gipskorsett verbrachte. Danach lernte sie allmählich wieder mit dem Gehgestell zu gehen, jedoch wurde ihr Zustand insgesamt schlechter. Mit etwa zwölf Jahren konnte sie endgültig nicht mehr gehen. Schließlich bekam sie einen Rollstuhl, den ihr bis dahin weder Familie noch Therapeuten und Ärzte zugestehen wollten. Sie alle wollten „ihre Faulheit nicht auch noch unterstützen“ und verlangten von ihr das Gehen um jeden Preis. Eine der letzten Operationen im Alter von sechzehn Jahren sollte wiederum die Kniebeugersehnen verlängern. Weitere Komplikationen waren die Folge und eine zusätzliche operative Sehnenstreckung wurde als notwendig erachtet. Sie verbrachte danach erneut mehrere Wochen liegend in Gips. Elisabeths Erinnerung an die Operationen sind schmerzlich in vielerlei Hinsicht, denn meist fühlte sie sich danach schlechter als vorher und obendrein warf man ihr vor, dass sie sich nicht genug bemühe.
Als Jugendliche besuchte sie eine spezielle Schule für Behinderte. Nebenbei wurde sie bei einer angesehenen Physiotherapeutin durch die „Therapiemaschinerie geschleust“. Diese hatte in Wien das Petö-Institut gegründet, in dem behinderte Kinder und Jugendliche den Großteil des Tages verbringen konnten und dort therapeutisch behandelt und betreut wurden. Die Petö-Therapie (nach ihrem ungarischen Begründer benannt) war als 24-Stunden-Therapiekonzept bekannt, welches für Spontaneität wenig Raum ließ. Selbst alltägliche Handlungen wurden zu einer Frage der Therapie gemacht. Angefangen damit, wie man ein Kind beim Füttern hält, bis hin zum Streicheln und Liebkosen: Alles diente dazu, spastische Muster und pathologische Reflexe zu unterdrücken. In Elisabeths Erinnerung erscheint ihre Therapeutin zwar als nette Person, die Therapie selbst beschreibt sie jedoch als Qual. Sie erinnert sich an Zwang und zahllose Verbote.
Während ihrer Kindheit wurde sie häufig zu einem Spezialisten für behinderte Kinder gebracht und anderen Ärzten als Negativbeispiel nach dem Motto „Seht, was alles passieren kann, wenn’s schief geht“ vorgeführt. Sie wurde als abschreckendes Beispiel für Eltern von behinderten Kindern missbraucht. Elisabeth bezeichnet sich selbst als das „negative Vorzeigekind“. In jener Zeit verlor Elisabeth die Achtung vor Ärzten und Therapeuten. Gleichzeitig aber entstand in ihrem Inneren etwas sehr Nützliches. Mit zwölf Jahren wusste sie sich schon zu verteidigen. Sie begann Widerstand zu leisten. Was allerdings bis heute anhält und auch unsere Feldenkrais-Arbeit stark beeinflusst, ist, dass manche Berührungen in ihr ein tiefes Gefühl der Demütigung wachrufen. Sie hat viele schmerzhafte Behandlungen erlebt, und ihre Umwelt ließ sie glauben, sie sei niemals gut genug.
Nichtsdestoweniger lernte Elisabeth in ihren Jugendjahren wieder zu gehen. Bis zu ihrem neunzehnten Lebensjahr verwendete sie zwei Vierpunktstöcke, danach zwei herkömmliche Gehstöcke.
Elisabeths Geschichte ist ziemlich komplex. Es dauerte viele Monate bis ich diese im gesamten Ausmaß erfassen konnte. Wenn man die Geschichte bedenkt, überrascht es, dass mir beim gemeinsamen Kennenlernen als Erstes Elisabeths strahlende Augen aufgefallen waren. Ebenso bemerkte ich ihr Lächeln und ihr waches Interesse, mit dem sie mich und meine Praxis betrachtete. Kaum zu übersehen jedoch war die Art, wie sie sich auf ihren Stöcken mühsam voran schleppte, nachdem sie den elektrischen Rollstuhl verlassen hatte. Sie sagte, sie sei gekommen, weil sie gehört hatte, ich sei sanft und unaufdringlich. Nach langem Zögern dachte sie nun daran, regelmäßig zu mir zu kommen. Elisabeth wollte nun „etwas für sich tun“, was sie für lange Zeit vermieden hatte. Es müsse angenehm sein und falls es um Leistung ginge, würde sie davonlaufen. Und noch eine wichtige Information für mich: Sie sehnte sich nach Berührung trotz der gemischten Gefühle, die sie zu diesem Thema hatte. Sie würde jedoch auf keinen Fall mehr zulassen, dass jemand sie auf grobe Art berührte.
Welche Auflagen für Behandlungen, die mit den Händen geschehen sollten!
Kennenlernen
Um in meine Praxis zu gelangen, muss man zehn Stufen überwinden. Elisabeth kam schwer auf ihre Stöcke gestützt, vorgebeugt und mit dem Blick zu Boden gewandt. Es sah aus, als hätte sie praktisch keine Knie, da sie die gestreckten Beine zur Seite und vorwärts schob. Sie bewerkstelligte das durch Heben der Hüften und durch eine seitliche Neigung des Rumpfes, um die Bewegungen der Beine auszubalancieren. Den Mantel abzulegen, die Tasche auf einen Sessel zu stellen, die Stöcke unter dem Tisch zu verstauen – alles erforderte eine Menge Rumpfschwanken in alle möglichen Richtungen. Das Sitzen (sie wollte gleich auf der Liege sitzen und nicht auf einem Sessel) schien erleichternd zu sein, obwohl ich sagen muss, dass es noch weitere Schwierigkeiten zum Vorschein brachte. Ihre Beine waren in einer Art X-Position, die Hüftgelenke fast in einem 90°-Winkel gebeugt, die Beine einwärts gedreht, die Oberschenkel und Knie berührten sich, letztere waren in einer leichten Beugestellung eingerastet. Die Füße waren vom Boden weit entfernt, und während sie mit mir sprach, gestikulierte oder lachte, drehten sich die Beine immer mehr in ihr Bewegungsmuster. Sie bemühte sich, das alles mit dem Brustkorb auszugleichen, die Arme verwendete sie kaum. Mein Eindruck war, dass Elisabeth absichtlich und so lange als möglich Arme und Hände bewusst nicht einsetzte. Erst als sie zu einer Seite hin zu fallen drohte, griff sie nach der Kante auf der anderen Seite der Liege. Sie hielt sich dort fest und zog sich hin.
Elisabeth meinte, sie wisse, dass sie ein Becken habe. Sie wisse auch, dass so ein Becken wichtig sei, das aber nur vom Hörensagen. Sie bewege ihr Becken nicht, weil sie es nicht spüre. Sie hätte kein Idee, wo es zu suchen sei und wo es sich befände.
Elisabeths Körpergewicht war nach rechts verlagert. Erst viel später erfuhr ich, dass sie ständig Angst hatte, zu dieser Seite zu fallen. Zum Ausgleich neigte sie sich nach links und hielt sich mit der linken Hand an der Liege fest. Häufig hielt sie den linken Arm auch ziemlich steif in die Luft, er diente dann als Gegengewicht. Ihr Kopf war nach rechts und ziemlich stark nach vorne gebeugt. Die Brust war eingesunken. Wenn sie etwas vor sich sehen wollte, musste sie den Nacken stark nach hinten beugen. Beim Aufstehen gingen die Füße gefährlich weit auseinander. Sie lehnte sich vor, bis ihre Hüftgelenke 90° oder mehr gebeugt waren. Mit viel Armeinsatz und einer Art Drehbewegung hievte sie sich hoch. Ihre Art zu gehen, zu sitzen, aufzustehen und sich aufrecht zu halten, scheint nun relativ einfach. Darüber herauszufinden und mehr Verständnis über ihre Bewegungsmuster zu gewinnen, benötigte viel Zeit und machte einen großen Teil unserer Arbeit aus.
So entsteht Zusammenarbeit
Unser gemeinsames Arbeiten besteht aus einer Funktionalen Integration (= FI) pro Woche. Ich möchte nicht so sehr detaillierte FIs beschreiben, sondern vielmehr, welche Themen aufgetaucht waren, wie wir diesen immer wieder begegneten und wie wir mit ihnen aus verschiedenen Blickwinkeln umgingen. In Zusammenhang damit steht, wie Elisabeth diese Erfahrungen in ihr Leben integriert hat. Diese Geschichte mag den Eindruck erwecken, von der Vergangenheit überladen zu sein. Ich sehe jedoch, dass Elisabeth immer wieder die Gegenwart zu vergangenen Erlebnissen in Bezug setzt. Ich bin in diesem Vorgang mit eingeschlossen und muss mich daher auch mit ihren Beziehungen, die in die Vergangenheit zurückreichen, auseinandersetzen. Mir fällt immer wieder auf, wie geschickt sie diese eingliedert. Vielleicht wundere ich mich deshalb oftmals darüber, dass sie frei von jeder Bitterkeit ist. Manchmal ist sie nach einer Stunde sehr traurig, in jeder Hinsicht bewegt, und die Tränen fließen. Doch dann kommt sie gleich wieder zurück in die Gegenwart.
Besonders am Anfang haben wir viel miteinander gesprochen. Elisabeth teilt Vieles mit, auch Persönliches, ohne Zurückhaltung. Sie spricht von sich selbst als Spastikerin und als Behinderte. Im Gegensatz dazu bin ich eine „Geherin“. Auf der anderen Seite schämt sie sich für Dinge, die so sehr zu ihr gehören. Sie hat die Neigung, sich für ihr „Spastisch-Sein“ zu entschuldigen. Manche Körperteile, z.B. ihre Füße, versteckt sie lieber. Nach und nach habe ich mehr über ihre Vorbehalte gegenüber Körperkontakt und über ihre immense Liebe zu Bewegung erfahren.
Dazu mehr aus Elisabeths Geschichte
Mit einundzwanzig Jahren gründete Elisabeth eine Wohngemeinschaft, in der Behinderte und Geher zusammen lebten. Sie war als Beraterin für Kinder und Jugendliche bei Integration Wien tätig, aber nach drei Jahren gab sie auf. Sie war depressiv und weinte häufig. Alles tat ihr weh. Sie selbst vermutet, dass das eine Folge von Bewegungsmangel war. Schon etwa zehn Jahre lang besuchte Elisabeth Kurse für Kontaktimprovisation und begann öffentlich aufzutreten. Schon als Kind sah sie ihre Berufung darin, Tänzerin zu werden. Sie sagt, das sei für sie lebensrettend gewesen. Solange sie tanzen kann, geht es ihr in jeder Hinsicht viel besser.
Elisabeth ist erfolgreich! Bühnenaufführungen mit Behinderten und Gehern kamen in den Neunziger-Jahren in Mode. Sie erzählte mir, welche wichtigen Dinge sie beim Tanzen gelernt hatte: Rollen, Kriechen, jemanden zu halten und sich halten zu lassen, den Körper kennen zu lernen, Körpergewicht abzugeben, Hebelwirkungen zu verwenden und Vieles mehr. Es mag überraschen oder auch nicht, doch fanden wir viele dieser Themen auch für unsere Feldenkrais-Arbeit relevant. Für Elisabeth ist es äußerst wichtig, Bewegung zu machen, die keine Therapie ist. TänzerInnen können das!
Sie hatte es bereits mit Feldenkrais Gruppen-Lektionen in „Bewusstheit durch Bewegung“ probiert, doch die waren zu anstrengend für sie. Der Ehrgeiz, etwas leisten zu wollen, verstellte ihr den Weg. Wie viele TänzerInnen hatte auch Elisabeth sich häufig verletzt. Sie litt wiederholt an Ellbogenentzündungen, da sie sich beim Rollen und Fallen zu allererst mit den Ellbögen abfangen musste. Das führte neuerlich zu Operationen. Mehr als einmal hatten ihr TanzkollegInnen die Feldenkrais-Methode empfohlen. Letztlich war die richtige Zeit dafür nun doch gekommen.
Elisabeth ist sehr beschäftigt. Gelegentlich singt sie in einem Chor, sie nimmt Gesangsunterricht, sie schreibt Liedtexte und präsentiert diese Lieder als Solistin, sie tritt als Tänzerin und Schauspielerin auf.
Zu Beginn unserer Arbeit war Elisabeth schlichtweg erschöpft. Sie besuchte damals eine Ausbildung. Sie wollte Beraterin für Menschen mit speziellen Bedürfnissen mit dem Schwerpunkt Behindertensexualität werden.
Elisabeth lebt allein. Schon ihr Alltag brachte sie manchmal, trotz Behindertenassistenz, an ihre Grenzen. An manchen Tagen wollte sie am liebsten im Bett bleiben, doch gewöhnlich meinte sie dann, dass es ihr nicht gut tue, sich so gehen zu lassen. Sie fordert viel von sich. „Ich bin eine Kämpferin!“, sagt sie.
Als sie zu mir kam, klagte sie über chronische Kreuzschmerzen, die sich verschlimmerten, wenn sie sich überforderte. Nacken und Schultern fühlten sich hart und wund an, das Atmen war schwierig. Ihr dringlichster Wunsch war, die Kreuzschmerzen leichter erträglich zu machen oder gar loszuwerden. Wie sie sagte, wäre sie in jedem Fall froh über jegliche andere Schmerzerleichterung, die ihr Feldenkrais bieten könnte. Sie hatte Angst vor neuerlichen Ellbogenentzündung und neuerlichen Operationen, daher versuchte sie, die Ellbogen auszusparen und diese niemals mit Gewicht zu belasten.
Aus dem, was sie mir erzählte und was ich bemerkt hatte, schloss ich, dass ich ihr mehr Skelettunterstützung zur besseren Aufrichtung im Schwerkraftfeld vermitteln müsste. Es war mir klar, dass dies der erste Schritt zur Besserung und ein Hauptpunkt im Umgang mit ihren Beschwerden sein müsste. Auf Skelettunterstützung und Stütze im Allgemeinen legen wir in unserer Arbeit immer noch das Hauptaugenmerk.
Ihr Ehrgeiz und die Art, sich mit und gegen ihre Ängste durchs Leben zu kämpfen, würden gewiss mit der Zeit noch deutlicher an die Oberfläche kommen und unsere Lektionen mitbestimmen. Alles andere sollte sich mit der Zeit entwickeln. Da ich um die feine Art, in der sie sich selbst wahrnahm, Bescheid wusste, war ich bereit, mich von ihr führen zu lassen.
Elisabeth fühlt sich in der Rückenlage am sichersten. Wir suchten einen Weg, wie sie Berührung annehmen konnte und das dauerte Monate. Ich begegnete allen möglichen Ängsten und Besorgnissen. Die meisten hatten mit der Erwartung von Gefahr und Schmerz zu tun und damit, dass das ohnehin niemanden kümmert. Erinnerungen aus der Vergangenheit tauchten auf, die meisten davon unerfreulich. Die Bereiche, die sie als schmerzend und überarbeitet schilderte, konnte ich mehr oder weniger berühren: Rücken, Schultern, Nacken und Brust. Den Kopf zu berühren schreckte sie auf, von den Armen ging Verwirrung aus, das Becken schien nicht vorhanden zu sein, die Knie bedeuteten nichts als Erinnerung an Operationen, die Beine zu berühren war Furcht erregend und das Berühren der Füße kam überhaupt nicht in Frage.
Elisabeth und ihre Geschichte waren für mich damals überwältigend. Ich habe die meiste Zeit damit verbracht, ihr die Situation während unserer Lektionen so leicht und annehmlich als möglich zu machen. Wie und wo ich Elisabeth berühren durfte, änderte sich und für einige Zeit schlossen wir ein Abkommen. Ich sagte ihr im Voraus, was und wie ich etwas machen wollte. Ich sagte z. B.: „Ich werde jetzt meine Handfläche auf deine linke Fußsohle legen“. Dann konnte sie zustimmen oder ablehnen. Sie konnte auch etwas anderes vorschlagen, eine Warnung äußern oder sonst irgendetwas dazu sagen. Ich folgte ihr aufs Wort. Alles brauchte seine Zeit, so wurden die „ängstlichen Teile“ Schritt für Schritt integriert.
Lange Zeit blieb ich dabei, es Elisabeth bequem zu machen. Das tat ich auch, wenn ich nicht verstand, was in ihr gerade vorging. Wir probierten viele verschiedene Positionen. Am Rücken liegt sie noch immer am liebsten. Ihr Zeit zu lassen und die Möglichkeit, herauszufinden, was „bequem“ überhaupt bedeutet, war in vielen Lektionen das Hauptthema. Am Anfang sah sie sich als Schwächling, der viel zu viel Zeit damit verbringt, sich „auspolstern“ zu lassen. Allmählich erkannte sie jedoch, dass ihr die einfache Tatsache, bequem zu liegen, mehr Sicherheitsgefühl gab und die Angst nahm.
Die leichtesten Positionen sahen oft aus wie die unvermeidlichen „pathologischen Reflexe“, wie sie es nannte: z. B. die Arme neben dem Kopf liegend, Schulter und Ellbogen im rechten Winkel gebeugt. Das war als „spastisch“ abgestempelt und daher verboten. Es brauchte lange, bis sie sich selbst erlaubte, sich in die verbotenen Richtungen zu bewegen. Ich musste ihr immer wieder bestätigen, dass das vollkommen in Ordnung war, und dass ich das in keiner Weise missbillige. Sie benötigte auch viel körperliche Erfahrung, um sich selbst trauen zu können. Sie musste spüren, dass sie sich in die Richtungen, die sie lange vermieden hatte, bewegen konnte, ohne dafür bestraft zu werden. Noch heute stellt das Erforschen von ehemals verbotenen Richtungen ein aufregendes Abenteuer dar. Es fällt Elisabeth schwer zu glauben, dass eine als spastisch eingestufte und daher verbotene Bewegung Teil einer wichtigen Funktion sein kann. Erst vor ein paar Monaten erlernte sie, Kopf und Augen unabhängig von einander zu bewegen und erkannte, dass es nützlich sein kann, das Kinn zu heben und den Kopf zurückzubeugen, wenn sie nach oben schauen wollte. Anfänglich hieß dieser Vorgang „Extensorenspasmus“.
Ich wollte es Elisabeth so leicht wie möglich machen, auch mich kennenzulernen. Es war mir nicht sofort klar gewesen, dass ich als Allererstes ihr Vertrauen gewinnen musste. Als sie dann eines Tages sagte: „Ulli, ich vertraue dir“, war ich zutiefst gerührt.
Unter diesen Gegebenheiten hat sich Elisabeths Zustand gebessert und tut es immer noch. Sie atmet viel leichter. Sie fühlt sich allgemein weniger erschöpft. Sie findet es interessant und genießt es, sich die Zeit zu nehmen, es sich bequem zu machen. Neues in sich selbst zu entdecken war für sie sehr spannend. Nach jeder Lektion fühlte sie sich aufrechter: „Die Stöcke sind mir zu hoch, ich muss mich nicht mehr so an ihnen anklammern“. Im Gehen schwankte sie weniger stark. Sie klagte nicht mehr so oft über ihre Kreuzschmerzen.
Manchmal saß sie nach einer Stunde einfach für eine Weile ruhig da, die Unterschenkel hingen dann etwas mehr in Richtuzg Boden. Diese Tatsache mussten wir lange Zeit ignorieren, denn wir wussten, Elisabeths Beine fungieren als Stimmungsbarometer. Ein tiefer Atemzug, auf sie zu zeigen oder bloß an sie zu denken konnte eine heftige Reaktion hervorrufen. Sofort sprangen die Beine in die Luft, zurück in die X-Haltung und warfen Elisabeth beinahe um. Sie gibt ihren Körperteilen Namen: „ängstliche Beine“ und „panische Füße“. Und: Elisabeth hat sich mit ihrem Becken und ihrer Wirbelsäule angefreundet! Sie zog die Möglichkeit in Betracht, sich von einem „inneren Etwas“ aufrecht gehalten zu fühlen.
Veränderung à la Elisabeth
Normalerweise trug sie „Doc Marten’s“ oder sonstige schwere Schnürstiefel, auch zu Hause. Letzten Sommer zeigte sie mir stolz ihre Füße, die in neuen Sandalen steckten. Erstmalig seit vielen Jahren erlaubte sie damit auch anderen, ihre nackten Füße zu sehen. Barfuß und ohne Socken zu gehen, störte sie nicht mehr.
Ich war immer über Elisabeths Einstellung zum Gehen verwundert. Was auch an Veränderung geschah – wenn sie sich mehr aufrichtete oder die Stöcke leichter handhaben konnte – entging ihr all dies nich. Dennoch blieb sie dem Gehen gegenüber gleichgültig. Ich sagte ihr zunächst nicht, dass mir das aufgefallen war. Ich musste erst für mich selbst meine eigene Motivation hinterfragen, ob ich sie zu einer Geherin machen wollte oder nicht. Ich wollte nämlich nicht den Eindruck erwecken, dass ich sie in eine dem Anschein nach uninteressante Richtung drängen würde. Doch ich blieb neugierig! Ich fragte Elisabeth, wie sie sich selbst sah: Als Geherin, die meist im Rollstuhl saß, weil das Gehen zu anstrengend war? Oder als eine, die im Rollstuhl sitzt, jedoch gehen kann, wenn die Situation es erfordert? Langes Schweigen. Mit dieser Frage hatte ich den Ball ins Rollen gebracht. „Weißt du“, sagte sie, „ich habe mich schon als Kind dafür entschieden, nicht gehen zu lernen.“ Das hörte sich endgültig und auch merkwürdig an. Elisabeth stammt aus einer gläubigen Familie. Bis zu ihrem siebzehnten Lebensjahr fuhr man mit ihr jedes Jahr nach Lourdes (eine weltberühmte Pilgerstätte für behinderte Menschen in Frankreich). Die Mehrzahl der nicht behinderten Pilgerinnen und Begleiterinnen in Lourdes waren Krankenschwestern und Nonnen. Die kleine Elisabeth wuchs mit der Überzeugung auf, sie müsse auch als Schwester enden, falls sie je anfing zu gehen. Obwohl sie heute darüber lacht, erschreckt sie die vermeintliche Zukunftsperspektive einer Geherin noch immer. In solchen Momenten sah sie, was sie als Geherin verlieren würde: ihre Assistenten beispielsweise. Außerdem sah sie, welche Pflichten auf sie zukommen würden: z. B. das Einkaufen im Supermarkt. Wir entschieden uns dafür, das Gehen zu beachten, jedoch ohne besonderen Nachdruck.
Elisabeths Tanzbegeisterung verbesserte nicht nur das Tanzen selbst, sondern brachte ihr ein neues Bewegungsverständnis allgemeiner Art und führte zu interessanten Feldenkrais-Stunden. In Zeiten, in denen sie tanzte oder für Aufführungen probte, ging sie bis an ihre körperlichen und seelischen Grenzen. Sie wollte nicht hinter den gehenden KollegInnen zurückbleiben. Sie wollte nicht anders als jene behandelt werden. Sie wollte nicht als Behinderte abgestempelt werden. Sie zahlt dafür jedoch einen wesentlich höheren Preis als andere. Sie gestand, dass sich alle TänzerInnen verausgabten und immer weiter antrieben, selbst wenn sie verletzt waren. Sie schilderte das mit einer Mischung aus Bewunderung und Mitleid.
Ich schlug vor, dass wir uns mit Aufwärmübungen und Tanzbewegungen, die sie brauchte, beschäftigen könnten. Wenn sie keine Sonderbehandlung von anderen wollte, so konnte sie vielleicht lernen, sich selbst sanfter zu behandeln? In vielen Stunden erforschten wir die Bewegungen, die in einer Dehnungsübung stecken. Wir suchten danach, was sie eigentlich trainieren wollte, und wie man dies gleichzeitig leichter und effizienter gestalten konnte. So wurde ihr Üben weniger mechanisch. Eine überraschende Entdeckung für sie war, wie man durch Verringerung der Anstrengung die Qualität einer Aufführung steigern kann. Wie man eine bestimmte Geste ausführt, den Arm in einer Choreographie hebt, wie man sich elegant festhält, um die Balance nicht zu verlieren – nie gingen Elisabeth die Fragen aus.
Elisabeth liebt dieses innerliche und empfindsame Selbstverständnis, das sie in unseren Lektionen entdeckt hat. Es hilft ihr, sich als einzigartig zu sehen. Der Wunsch, sich mit anderen zu vergleichen, ist nicht mehr vorrangig. In Bezug auf das Tanzen erlaubt ihr das Gefühl der Einzigartigkeit die Aufwärmübungen abzuändern und an ihre Bedürfnisse anzupassen. Nach und nach hat sie begriffen, dass eben manches für sie im Moment zu schwierig ist. Es ist für Elisabeth denkbar geworden, dass man auch etwas auslassen oder statt immer Demselben etwas Ähnliches tun kann.
Singen spielte für Elisabeths Entwicklung eine große Rolle. Sie brachte immer mit, was ihre Gesangslehrer haben wollten: in den Bauch zu atmen, die Rippen zu öffnen und so fort. Sie sagte meist, dass sie das zwar theoretisch verstehen, aber nicht spüren könne. Viele Lektionen drehten sich um den Atem und wo man ihn spüren kann. Das Singen war für sie eine höchst willkommene Gelegenheit, eine Beziehung zu Brustkorb und Bauch herzustellen, vor allem – und das war besonders wichtig – zum Becken. Als sie sich für einen Soloauftritt vorbereitete, wollte sie plötzlich ihr Stehen verbessern („Singen im Sitzen schaut so furchtbar behindert aus“). Wir waren glücklich an dem Punkt angelangt, wo es auf das Stehen ankam und die Art sich aufrichten zu können einen großen Unterschied machte!
Rückschritt als Chance zum Fortschritt
Vor zwei Jahren hatte Elisabeth eine schwere Zeit. Da sie Arbeitslosenunterstützung erhielt, musste sie Stellenangebote annehmen. Menschen im Rollstuhl wird üblicherweise Büroarbeit angeboten. Trotz ihrer heftigen Abneigung musste sie Computerkurse besuchen. Drei Monate lang musste sie acht Stunden am Tag vor einem Bildschirm sitzen. Nach ein paar Wochen war ihre Verfassung jedes Mal, wenn ich sie sah, schlechter. Alles schmerzte und am Ende einer Lektion gab es kaum eine Verbesserung. Elisabeth weinte oft während der Lektion, doch kam sie regelmäßig. Dass es erlaubt ist, sich bei mir auch elend zu fühlen, war ihr ein Trost. Manchmal waren die Stunden nur kurz. Sie konnte nicht viele neue Informationen aufnehmen. Oft war sie nach einer Stunde für den Rest des Tages „völlig geschafft“. Sie blieb dabei, sich zu verausgaben und fand das auch noch gut. Auch wenn sie alle Zeit der Welt hatte, verhielt sie sich geschäftig. Andernfalls hätte sie sich überflüssig gefühlt. Eine Frage, die allen Stunden zu Grunde lag, war: Wie viel ist genug? Wir veränderten sie in die Frage: Wie wenig ist genug? In dieser Zeit lernte sie, wann und wie sie sich ausruhen konnte und musste.
Elisabeth schaffte es, den Computerkurs abzuschließen. In diesem Verlauf gelangte sie zu der Entscheidung, auf die Arbeitslosenunterstützung zu verzichten. Sie bezahlt nun als freie Schauspielerin ihre eigene Sozialversicherung. Zuerst machte ihr das Angst, doch dann war sie sehr erleichtert, und genauso erging es ihrem Rücken, ihrem Nacken, den Schultern und dem Atmen.
Lernschritte
Es wird bestimmt noch eine Weile dauern, bis Elisabeth lernt, bequem und sicher, eben gut, zu sitzen. Lange hatte sie nicht realisiert, dass ihr Feldenkrais auch zu besserem Sitzen verhelfen kann. Sie hatte sich perfekt daran gewöhnt, dass es mühsam für sie ist, das Gleichgewicht zu halten, und dass sie jederzeit fallen kann. Selbst im Rollstuhl sitzend brauchte sie jemanden, der rechts neben ihr herging, damit sie sich sicher fühlte.
Beim Sitzen geht es in erster Linie um das Becken und die Wirbelsäule. In den Stunden ist es für sie immer vorrangig, die Skelettstütze zu spüren. Sie hat eine ganz persönliche Art, sich in ihre „seitliche S-Form“ zu setzen. Ich habe davon ausführlich am Anfang der Geschichte erzählt. Mit der Zeit und durch unsere gemeinsame Arbeit musste sie im Sitzen zu einer ganz neuen Aufrichtung finden. Ein Teil davon war, dass sie die Begriffe „gerade“ und „schief“, und was dazwischen liegt, neu definieren musste.
Eine weitere bedeutsame Entdeckung für Elisabeth war, dass sie sich auch auf die Arme stützen konnte, wenn es nötig war. Sie hatte das sogenannte „freie Sitzen“ idealisiert. Was auch immer passierte, die Arme durfte sie nie und nimmer als Stütze verwenden. Von ihr als Kind hatte man in den Therapien verlangt, frei zu sitzen, später hatte sie diese Forderung stark verinnerlicht. So hatte Elisabeth nie erlernt, sich abzustützen. Sie lebte in ständiger Angst vor weiteren Ellbogenoperationen und Schmerzen in den Handgelenken, wenn sie diese nach hinten beugte. Dieses Vermeiden des Sich-Abstützens führte noch viel weiter. Wir mussten uns mit der Idee des Stützens im Allgemeinen beschäftigen. Schon allein das Wort machte ihr Angst. Die Vorstellung von „sich anlehnen“ und „Gewicht abgeben“ konnte sie leichter annehmen. In vielen Stunden haben wir damit gespielt, zu lehnen und Gewicht abzugeben. Wir haben erforscht, auf welche Teile (Sitzbeine, Fersen u. a.) sie sich verlassen und diese auch mit Gewicht belasten konnte. Wir haben erforscht, wie eine Bewegung mittels Druck durch das Skelett weitergeleitet wird. Elisabeth hat gelernt, wie man sich an eine Sessellehne anlehnt. Sie merkte, wo die Lehne ihrem Rücken eine Hilfe sein konnte.
In anderen Stunden wieder ging es um funktionale Verbindungen: von der Hand über den Arm, die Schulter und den Rumpf zum Becken und zurück. Allmählich getraute sich Elisabeth, ohne Angst und Schmerzen auf die Hände zu stützen. Als Tänzerin stellte sie manchmal hohe ästhetische Ansprüche an ihr Tun. Lange betrachtete sie das Zurückbeugen der Hände als komisch und unschön. Erst als sie sah, dass sich auch bei mir die Haut runzelt, wenn ich das Handgelenk nach hinten beuge, konnte sie sich mit diesem Teil der Bewegung aussöhnen.
Elisabeths Einstellung sich selbst gegenüber hatte sich allmählich verändert. Sie sagte gelegentlich, dass sie sich nicht mehr so unter Druck setzen würde, dass sie sich sehr dafür interessieren würde, sich das Leben leichter zu machen. Das war in vielen Dingen zu sehen. Einmal fragte sie, ob sie ihre verschiedenen Rollstühle mitbringen könnte. Sie wollte mit meiner Hilfe eruieren, welche Polsterung, Armlehnen etc. für sie am besten wären. Sie akzeptierte mehr sichtbare Unterstützungen, auch wenn der Preis dafür war, dass man sie als mehr behindert einschätzte, als sie tatsächlich war. Doch wollte sie nun weniger Mühe für das Sitzen vergeuden.
Elisabeth geht zum Reiten für Behinderte. Sie war als Kind geritten, hatte es aufgegeben, da sie es für eine heimliche und verkleidete Therapie hielt und hat es nun wieder aufgenommen. Sie reitet normalerweise auf einem Spezialsattel, ihre Beine werden fixiert, sie hält sich am Zaumzeug fest. Zu beiden Seiten muss jemand nebenher gehen für den Fall, dass sie fällt. „Wirklich sehr behindert!“ meint sie dazu. Während der letzten Monate erlebte sie ihren Triumph. Erstmals getraute sie sich ohne den Sattel, mit frei hängenden Beinen und freihändig zu reiten!
Elisabeth bestellte ein Spezialfahrrad, das ihren Bedürfnissen angepasst war.
Seit einem Jahr arbeitet sie Teilzeit beim Wiener Hilfswerk (einer Organisation, die u. a. Menschen ausbildet, um Behinderten im Alltag zu assistieren). Sie berät behinderte Menschen, die AssistentInnen suchen. Soviel ich weiß, ist das die erste Anstellung, die ihr wirklich Freude macht. Umso trauriger war sie, als sie nach ein paar Monaten wieder über Rückenschmerzen und das viele Sitzen klagte. Sie sagte, dass sie wieder angefangen habe, viel zu weinen und dass sie unweigerlich die Arbeit wieder aufgeben müsse. Eine ähnliche Geschichte hatte ich schon zweimal gehört. Also sprachen wir über diese Spirale: Arbeit im Sitzen – Schmerzen überall – weinen – deprimiert sein – den Umständen die Schuld geben – aufgeben – sich überflüssig vorkommen. Diesmal hätte Elisabeth noch mehr Grund zum Weinen als sonst, denn sie wollte die Arbeit nicht verlieren. Das stellte einen starken Anreiz zur Veränderung dar. Ihre unglaubliche Aufgabe lautete, darüber nachzudenken, wie sie die Arbeit behalten und sich trotzdem wohl fühlen konnte. Nach einigen Tagen kam sie ganz aufgeregt: „Weißt du, was ich jetzt mache, wenn ich im Büro bin? Ich sitze nicht mehr die ganze Zeit, ich gehe herum!“ Sie legte die Strecken zwischen Schreibtisch, Kopiermaschine, Toilette etc. zu Fuß und mit den Gehstöcken zurück. Sie legte sogar ihren behinderten KollegInnen nahe, dasselbe zu tun. Sie eiferten um die Wette. Sie gestand, dass sie dabei zwar weniger nachgiebig sich selbst gegenüber war und dass alles, was sie tat, mehr Zeit in Anspruch nahm, doch zahlte es sich aus, diese Umständlichkeit in Kauf zu nehmen, weil es ihr damit in jeder Hinsicht besser ging. So erwachte in Elisabeth das Interesse fürs Gehen. Immer noch ist sie schüchtern in Bezug auf ihren Fortschritt, dennoch findet sie es aufregend, eine Geherin zu werden. Wir haben mitunter auch eine Menge Spaß miteinander. Wenn sie z. B. nach einer Lektion bereitwilliger die Knie beugt und sie das mag, sage ich „Elisabeth, ich fürchte, das wird dir das Gehen leichter machen. Wenn du das nicht willst, blockierst du deine Knie am besten gleich wieder!“
Immer noch arbeiten wir an den gleichen Themen wie zu Anfang, wenn auch auf einem anderen, viel höheren Niveau. Elisabeth braucht Hilfe, wenn sie vom Sitzen aufstehen will. Erst muss ich ihre Füße in eine passende Position stellen, dann helfe ich mit meinen Füßen, damit ihre nicht auseinander rutschen. Ich stelle mich vor sie und fasse sie am Becken, damit sie die Richtung zum Aufstehen findet. Sie weiß, wie sie sich vorbeugen und wo das Becken hingehen muss und wie sie durch Fersendruck in den Boden das Gleichgewicht findet. Inzwischen beugt sie die Knie ein klein wenig beim Gehen. Die Stöcke dienen mittlerweile mehr der Balance als der Stütze. Zum Vorwärtsbewegen der Beine dreht sie das Becken. Sie kann sich im Stehen nach links und rechts drehen und dabei nach oben und unten schauen. Im Sitzen kann sie auch im Raum herumschauen. Im Sitzen kann sie ihre Knie fast rechtwinkelig beugen. Wenn ich ihr helfe, die Füße auf den Boden zu stellen, kann sie ihre Füße am Platz lassen. Auf jeden Fall können wir über die Beine und mit den Beinen reden, ohne dass Elisabeth Angst bekommt.
Seit zwei Wochen kann sie sich auf ihre Arme und Hände stützen, wenn sie das braucht. Sie hat weniger Angst zu fallen. Sie kann ihre Arme leichter und höher heben, die Reichweite ist bedeutend größer geworden. Sie kann ihr Gewicht vom Becken her verlagern und zu einer neuen „neutralen“ Sitzposition finden.
Ein neuer Zugang
Seit ein paar Wochen besucht Elisabeth einen Meditationskurs, in dem es um Zen-Sitzen geht. Sie übt nun täglich das Sitzen auf einem Meditationspolster. Die Beine müssen in einer Art W-Haltung sein, die Knie gebeugt und die Füße zeigen nach außen und hinten. Die Hände sollen entspannt im Schoß liegen. Das stellte uns vor einige neue Aufgaben! Wir arbeiteten am Übergang vom Sitzen am Sessel zum Boden, auf den Meditationspolster und wieder zurück. Wieder ging es darum, die Sitzbeine zu spüren und das Becken zu verwenden. Da Elisabeth weiterhin meditieren will, muss sie sich mit ihren lange vernachlässigten Knien befassen. Erstmals gab ich ihr eine Feldenkrais-Lektion, in der sie bäuchlings auf der Liege lag, die Beine jedoch in einer knienden Position blieben. Mit viel Hilfe ihrer Hände und doch genügend aufrecht in den Hüften konnte Elisabeth danach auf ihren Knien stehen. Sie dachte sofort darüber nach, wie sie als nächstes einen Fuß nach vorne bewegen könnte, um aufzustehen.
Elisabeths Ziele haben in den letzten Monaten neue Dimensionen erreicht. Neulich sagte sie mir, sie wolle in der Rückenlage die Füße flach auf den Boden stellen können. Einer ihrer sehnlichsten Wünsche ist es, mit den Füßen abwechselnd Stiegen zu steigen und weiters sich auf ein Knie und einen Fuß stützen zu können, um sich die Schuhe zu binden. Sie sagte, dass sie die Geher um genau diese Bewegung beneide.
Als ich Elisabeth um die Erlaubnis bat, über sie zu schreiben, antwortete sie vergnügt, dass sie selbst etwas aus ihrer Erfahrung beitragen wolle:
„Bei der Erfahrung mit Feldenkrais ist das Neue für mich, dass sich Dinge eröffnen, die ich vorher nie gekannt habe. Am besten gefällt mir, dass nach einer Lektion für etwas Spezielles einfach alles besser ist. Das ist etwas Besonderes! Ich habe die Liebe zu meinem Körper entdeckt. Ich bin so froh, dass Gymnastik und Leben eins geworden sind. Mein Körper sagt mir, was er braucht. Ich erlaube meinen AssistentInnen und anderen Leuten nicht mehr, mich so anzugreifen, wie sie es wollen. Ich bin das jetzt, die ihnen sagt und zeigt, wie sie das tun sollen“.