Elsie kam als Studentin zum Sommerkurs „Stimme und Mee(h)r“ nach Kroatien.
Gesangsunterricht war das Hauptthema dieses Kurses, eingebettet in Feldenkrais, Qui Gong und Shiatsu. Die TeilnehmerInnen hatten die Möglichkeit, täglich an einer Feldenkrais-Gruppenlektion teilzunehmen und eine Einzellektion zu bekommen.
Elsie studierte Gesang. Als sie zu mir zur Einzelstunde kam, wollte sie jedoch etwas, das ihrem Klavierspiel helfen sollte. Sie spielte bereits seit ihrer Kindheit und nahm, damals 21 Jahre alt, immer noch Unterricht. Sie liebte es, Klavier zu spielen! Es bedeutete für sie eine Zeit der Erfrischung, Entspannung und Erholung. Sie erzählte, dass ihre linke Hand während des Spielens sehr langsam sei und nannte dieses Phänomen „meine langsame linke Hand„. Sie hinke, sagte sie, hinter der rechten her. Die linke Hand verzögere ihr gesamtes Spiel und verlangsame ihr Tempo. Als beste Lösung ließ sie einfach einige Noten aus und spielte nur Teile der Partitur.
Vor allem dann, wenn ich jemandem nur eine einzige Lektion gebe, frage ich als Erstes, wie die Person von sich aus mit ihrer Schwierigkeit zurecht kommt. Bei MusikerInnen interessiert es mich auch, welchen Rat ihre MusiklehrerInnen geben. Diese sind üblicherweise die Ersten, die mit Problemen ihrer Schüler konfrontiert werden. Elsie hatte eine ganze Reihe von LehrerInnen und KollegInnen gefragt, was sie gegen ihre langsame Hand tun könne. Die Antworten, die sie bekommen hatte, waren nahezu identisch: Dass Elsie kein Einzelfall wäre, dass sie sich besser daran gewöhnen sollte und einfach härter an sich arbeiten und mehr üben sollte. Alles in allem war das für Elsie weder hilfreich noch ermutigend.
Bezogen auf den Gebrauch der Hände beim Klavierspiel interessierten mich vor allem folgende Aspekte: Wie saß Elsie, wie gebrauchte sie dabei ihr Becken und ihre Wirbelsäule und wie empfand sie die Verbindung zwischen Armen und Rumpf? Ich fragte Elsie, ob sie jemals an derlei Aspekte gedacht habe. Sie verneinte, doch ihr Interesse in diese Richtung weiter zu forschen, war geweckt.
Sich im Wesentlichen nur auf den Kontakt zwischen Fingern und Tasten zu konzentrieren, ist eine Sichtweise, die man häufig bei PianistInnen findet. Wenn jedoch die Arme nach vorne gehoben werden, kommt sehr viel mehr zum Einsatz. Das Becken beginnt eine Rolle zu spielen und irgendwann werden die Füße wichtig. Becken und Füße als Stütze zu verwenden gibt ein besseres Gefühl der Stabilität. Gleichzeitig vergrößert und erleichtert sich der Bewegungsspielraum der Arme und Hände.
Bewegungserforschung im Sitzen und Liegen
Ich setzte mich vor Elsie und begann, ihre Arme ein wenig zu heben. Ich wollte deren Gewicht spüren und die Richtungen finden, in die sie sich am leichtesten bewegen ließen. Mit dem rechten Arm war es einfach. Während ich ihn sanft nach vorne bewegte, merkte ich, dass sie dem Arm – und mir – ein wenig folgte, ohne dass irgendwo mehr Druck oder Anstrengung spürbar wurde. Der linke Arm war völlig anders. Ich konnte ihn kaum nach vorne bringen, ohne dass er schwerer und schwerer wurde und Elsies Gleichgewicht ins Wanken geriet. Auch sie konnte diesen Unterschied deutlich spüren. Ich bat Elsie, ihre Arme abwechselnd selbst zu heben und deren Gewicht zu vergleichen. Ich bat sie, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie bereitwillig sich ihre Arme heben ließen. Sie griff nach vorne und spielte gewissermaßen Luftklavier. Dabei beobachtete ich auch Elsies Rücken. Ich fand eine Stelle, links an der unteren Brustwirbelsäule, die sich deutlich zusammenzog. Ich konnte klar sehen, wie diese Kontraktion unveränderlich bestehen blieb, gleichgültig, wo ihre Hände gerade waren.
Um Elsie in besseren Kontakt mit ihrem Rücken zu bringen, begann ich ihren Brustkorb zu bewegen. Sich nach links zu neigen, verbunden mit einer kleinen Drehung nach links, war ihre bevorzugte Richtung. Ich konnte diese Bewegung sogar ohne weitere Mühe ein wenig überbetonen. Als sie dann ihren linken Arm hob und nach vorne griff, war sie sehr überrascht, wie sie die Einschränkung ihres Armes in dieser Position spüren konnte. Dass die Behinderung ihrer Hand möglicherweise von Rücken und Brustkorb ausging, hatte sie nicht erwartet. Um dieses Muster noch mehr zu verdeutlichen, ließ ich Elsie mit der rechten Seite die linke imitieren. Das Spiel mit diesen Möglichkeiten erlaubte ihr mehr und mehr, den Zusammenhang zwischen Brustkorb, Rücken und Armen wahrzunehmen. Wir fuhren eine Weile damit fort, im Sitzen die beiden Seiten zu vergleichen. Wir erforschten vor allem das Neigen zur Seite, die „Akkordeon“-Bewegungen des gesamten Brustkorbs.
Als nächsten Schritt wollte ich Elsie die Bewegungsmöglichkeiten ihres Beckens zur Gewichtsverlagerung näher bringen. Eine nützliche Erfahrung war es, die Gewichtsverlagerung nicht nur mit einer seitlichen Neigung zu verbinden, sondern auch mit einer Verlängerung der Seite, zu der hin sie ihr Gewicht verlagerte. Mit beiden Händen an ihrer Beckenoberkante bewegte ich sie zuerst ein wenig nach vorne und hinten. Dabei zeigten sich einige Unklarheiten: Während ich Elsies Becken rollte, fand ich kaum Antwort auf diese Bewegung in ihrer Wirbelsäule. Mit den Händen unter den Beckenseiten rollte ich dann das Becken von Seite zu Seite. Erwartungsgemäß ließ sich die linke Hüfte nachgiebig anheben, die rechte dagegen ziemlich zögerlich. Während ich ihr Becken auf diese Art rollte, hob Elsie wieder ihre Arme. Bald fand sie selbst heraus, dass es mehr funktionalen Sinn machte, mit dem Arm auf der längeren Seite nach vorne zu greifen.
Für den Rest der Lektion arbeitete ich mit Elsie in der Seitenlage. Sie wählte zuerst die linke, dann die rechte Seite. Meine Absicht war, zu klären, was wir im Sitzen gefunden hatten. Ich wollte ihr das Zusammenspiel von Verlängerung und Verkürzung der beiden Seiten noch deutlicher erfahrbar machen. Sie sollte dies von unterschiedlichen Bereichen aus spüren und dazu wurden Rippen, Wirbelsäule, Nacken, Kopf, Becken und Sitzknochen miteinbezogen und in Zusammenhang gebracht. Als krönenden Abschluss konnte ich ihr zeigen, wie sich ihre gesamte linke Seite verlängerte, während ich sanft an ihrem linken Arm zog.
Als Elsie dann wieder saß, gab es einiges an Veränderung. Als sie ihre Arme neuerlich hob, war sie verblüfft, wie leicht diese waren. Elsie meinte, die Arme hätten an Gewicht verloren. Als ich ihre Arme bewegte, konnte sie den Bewegungen folgen und ihr Becken in alle Richtungen leicht rollen. Wohin sie jetzt auch immer greifen wollte, ihr gesamter Körper war daran beteiligt. Sie fühlte viel mehr Platz zwischen den Rippen.
Nun wollte Elsie Klavier spielen und das sofort und mit großem Eifer. Ich bat sie, vom Klavier weg zu bleiben, zumindest für die nächsten Stunden. Sie sollte sich Zeit nehmen, alle neuen Erfahrungen ins tägliche Leben zu integrieren. Ich versprach, am nächsten Tag noch ein wenig mit ihr zu arbeiten und zwar während sie am Klavier saß und spielte. Am nächsten Tag erzählte sie mir dann, sie hätte sich nicht zurück halten können, ungeachtet dessen, was ich ihr geraten hatte. Natürlich nicht: Klavier zu spielen ist ihr tägliches Leben! Elsie hatte sich spätabends ins Klavierzimmer geschlichen und gespielt! Wie? Es war ihr keine Zeit geblieben, um irgendetwas Spezielles über ihre linke Hand zu bemerken, denn zu ihrer allergrößten Überraschung hatte sie „nie, nie, nie zuvor so dermaßen schnell gespielt„. Es hatte sich für sie angefühlt, als hätten ihre Hände ein nahezu unkontrollierbares Eigenleben und Tempo und das hatte Elsie mehr als genossen.