Feldenkrais I
Behutsam öffne ich die Tür, ich möchte den Patienten nicht wecken. Setze mich an die Seite des Bettes. Er schläft noch und lässt mir so Raum, nachzudenken. Vor einem halben Jahr sind wir uns zum ersten Mal begegnet, er nach einer Operation aufgrund eines Tumors im rechten Schultergelenk und ich als Mitglied eines psychosomatischen Projekts für onkologische PatientInnen. Nur mühsam kamen wir miteinander ins Gespräch, das forderte mich heraus und ich besuchte ihn trotzdem regelmäßig alle zwei Wochen. Der Schock saß tief, er war Vize-Landesmeister im Fechten und hatte einen zentralen Teil seines Körpers verloren, seine Schulter. Vor Wochen entdeckte ich zufällig ein Buch, das mich durch seinen Titel unmittelbar angesprochen hat: Bewusstheit durch Bewegung von Moshe Feldenkrais. Ich las mich hinein, die Sprache mutete mich seltsam an, der Inhalt begann mich zu packen, immer wieder vermeinte ich, ich hätte verstanden und dann war ich wieder verwirrt, ich merkte zunehmend, wie meine Aufmerksamkeit für meine Bewegungen sensibler wurde. In dieser Auseinandersetzung kam mir die Idee, vielleicht interessiert dieses Buch meinen schweigsamen Patienten! Er war mir in vielen Aspekten fremd, auch darin, dass Bewegung und Sport in seinem früheren Leben im Zentrum seines Interesses lagen. Ich folgte meiner Intuition und brachte ihm das Buch. Ohne sichtliche Regung nahm er es entgegen. Bei jedem folgenden Besuch in den vergangenen Wochen lag das Buch auf dem Nachtkästchen. Ich bemerkte das genau und meine Neugier wuchs, was tut er damit? Seine und meine Diskretion hinderten mich, ihn zu fragen, ich wollte warten, bis er mir zu erzählen beginnt und das war gut so. Bei meinem letzten Besuch teilte er mir mit, dass das Buch gut sei und ihm helfe. Vorsichtig taste ich mich vor, ob er mir sagen mag, was daran gut sei und wie es ihm helfe. Er habe einige Gedanken von Feldenkrais auf sich selbst übertragen und er übe nun jeden Tag im Kopf bestimmte Bewegungen, die er physisch nicht mehr ausführen könne, nun eben im Kopf! Außerdem überzeuge ihn, dass dieser Mann seine Methode aus einer eigenen Verletzung heraus entwickelt habe. Er hatte aufgrund seiner Erkrankung sein Schultergelenk verloren und dadurch war die Funktionalität seines rechten Armes sehr eingeschränkt. Im Laufe der Wochen bemerkte ich, dass sich die Muskulatur seines Armes festigte und die Gestimmheit des Patienten sich leise aufhellte. Das Ärzte-Team und der Operateur waren überrascht und konnten sich diese unerwartete Entwicklung nicht erklären. Ich war einmal bei einer Visite dabei, es wurde am Krankenbett die unerwartete muskuläre Entwicklung diskutiert, der Patient schwieg und ich ebenso. Gesundung ist ein geheimnisvoller Prozess und jede/r PatientIn hat das Recht auf ihre/seine Geheimnisse.
Diese erste Begegnung mit Feldenkrais in der ersten Hälfte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war leise und spektakulär, verwirrend und zutiefst beeindruckend. Ich arbeitete mich bis ans Ende von ‚Bewusstheit durch Bewegung‘, probierte die eine und andere Übung, verlor immer wieder den Faden. Das Rätsel blieb größer als das Verstehen.
Feldenkrais II
Ich versuche den Rollstuhl und meine Kollegin über die drei Stufen hochzuziehen. Jeden Morgen ringe ich um diese Übung, denn nur so kommen wir in unser gemeinsames Büro. Ich strecke mich, um den Ordner, den meine Kollegin braucht, vom Regal zu holen. Wir beide bauen eine Beratungsstelle für Arbeitsassistenz für Menschen mit besonderen Bedürfnissen auf. Wir befinden uns in der ersten Hälfte der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.
Jeden Tag begegnen wir Hürden, Schwellen und Grenzen einer gleichwertigen Teilhabe am Leben und Arbeiten von Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Unser beider Leiblichkeit ist ein Teil unserer gemeinsamen Auseinandersetzung, sei es, dass wir ‚unser‘ Alphabet der Assistenz erst entwickeln und finden müssen, sei es, dass wir unsere Schranken im Kopf als Geherin und Rollifahrerin identifizieren und diskutieren. Ich habe einen mir sehr vertrauten Schmerzzustand aufgrund einer ausgeprägten Skoliose. Es gibt Zeiten, wo ich aufgrund meiner ständigen Schmerzbegleiterin die Assistenz für meine Kollegin nur mit Mühe ausführen kann. Ich beisse die Zähne zusammen und gebe, was ich geben kann. Es ist mir schwer, das meiner Kollegin zu sagen. Dann spricht sie mich an, sie merke, dass ich Schmerzen habe. Dadurch kommen wir ins Reden. Sie knackt meine Nuss des Schweigens. Sie erzählt mir von ihrer Zauberin, die sie immer wieder vom Schmerz ihrer höllischen Spasmen befreit, die Zauberin ist Feldenkrais-Lehrerin. Ob ich nicht Lust hätte, sie aufzusuchen? In mir ist eine starke innere Bewegung, da ist er wieder, der Monsieur Feldenkrais! Es wird noch eine ziemliche Zeit brauchen, bis ich den Hinweis und Rat meiner Kollegin und Freundin aus dem Kopf in die Hand nehme und die Zauberin anrufe. Ich habe es getan und meine Auseinandersetzung mit Feldenkrais und meiner Bewusstheit durch Bewegung dauert bis zum heutigen Tag.
Feldenkrais III
Ich habe starke Schmerzen, sie wollen nicht aus meinem Körper weichen. Mein Bewegungsradius wird immer enger, meine Tapferkeit schmilzt und Verzweiflung nimmt immer mehr Raum in mir. Ich schäme mich, ich kann mir nicht mehr helfen. Immer wieder kommt mir der Rat meiner Freundin in den Sinn, dann tu ich’s, ich ruf die Zauberin an und bekomme einen ersten Termin. Beim Weg zu ihrer Praxis halten mich Angst und Hoffnung fest im Griff. Sie wird mir zu Leibe rücken, soviel weiss ich schon, mein Leib ist in meinem Inneren zu einem kleinen, dichten, schmerzerfüllten Knödel geschrumpft, und das sollen fremde Hände berühren!? Die erste Begegnung mit der Zauberin ist klar, freundlich und diskret. Ihre Hände sind behutsam, kundig und klar. Auf dem Heimweg nach der ersten ‚Funktionalen Integration‘ bin ich verdattert, erleichtert und mein Bewegungsradius hat sich wesentlich erweitert. Es wird noch Monate dauern, bis der Alarm in mir sich langsam beruhigt, es ist die Berührung, die mich immer wieder das Fürchten lehrt. Ich fasse sehr langsam Vertrauen, ihre Hände wissen, was sie tun. Allmählich nehme ich auch war, was ihr Tun mit meinem Körper macht. Allmählich nehme ich die Resonanz meines Körpers auf ihre Forschungsgänge wahr. Meine Leistungsbereitschaft erblüht und ich will ‚mittun‘, sehr geduldig vermittelt sie mir, lassen Sie’s gut sein. Ich kann es nicht glauben, dass ich so etwas Köstliches bekomme, ohne dass ich dafür etwas tue. Langsam wächst das Vertrauen zu meinem Leib, dass er auch etwas anderes kann als weh zu tun. Das Vertrauen in das Können und die Kunst der Zauberin gehen einher mit einem neuen Zutrauen in meine körperliche Lernfähigkeit, es entspinnt sich ein dialogischer Prozess, der mich als Ganze in einen komplexen Veränderungsprozess führt. Immer wieder stehe ich völlig verwirrt von der Lektion auf, ich habe einen zwei Meter langen rechten Fuß, meine Schultern fühlen sich wie ein überdimensionaler Kleiderbügel an. Meine Hüfte schwingt, ich kann es nicht fassen. Ich entdecke in unerwarteten Rhythmen gleichzeitig meine ‚alten‘ Körperbilder und die neuen Möglichkeiten, die mein Körper auch hat. Langsam bekomme ich auch Vertrauen in meine Worte, versuche so genau, wie es mir möglich ist, meine Wahrnehmungen zu beschreiben. Meine Schmerzschwester kommt immer seltener zu Besuch. Ich kann es längere Zeit nicht fassen und langsam wächst die Sicherheit, ja es ist möglich, dass ich schmerzärmer leben kann! Die Geduld und Klarheit der Zauberin ist eine tragende Wirklichkeit, die meine Leiblichkeit in neue Räume führt und mir immer wieder die Erfahrung ermöglicht, ich bin mein Leib und das ist gut so. Die anfängliche Verwirrung gehört zu diesem vertieften Lernprozess, ohne sie ist das neue Land nicht zu haben.
Die Verfeinerung meiner Wahrnehmung gewinnt an Breite, ich spüre schneller, wann ich mich wieder in eine altvertraute Schonhaltung einniste, zu viel Spannung aufbaue und dadurch mein Bewegungsrepertoire einschränke. Ich bemerke, wie das auch in meiner Berufstätigkeit als Beraterin und Supervisorin unerwartete Auswirkungen hat, ich höre besser, nehme meine Gegenübertragung genauer wahr, kann entspannter warten. Auch meine Alltagshandlungen wie Kartoffelschälen, Zähneputzen, Rucksack tragen, auf den Zug warten sind mitten in diesem Verfeinerungsprozess angekommen. Bewusstwerdung in einer umfassenden Weise und permanent im Fluss. Manchmal bin ich einfach tief dankbar und glücklich es getan zu haben, die Zauberin zu kontaktieren. Mein Lernprozess dauert an, die Weite und Tiefe der Kultivierung von Bewusstheit und Bewegung haben eine Fülle und Schönheit, wie ich es mir anfangs nicht vorstellen konnte. Und die Verwirrung ist die stabile Passage ins Neue.
Mag.a Marietta Schneider